Hans-Jürgen Rudovsky, Februar 2015
Einleitung
Die Melkanlagenforschung und -entwicklung ist bestrebt, das Sekretionspotential der Kühe möglichst vollständig und euterschonend zu nutzen. In hohem Maß wird der Milchertrag mit von einer stabilen Eutergesundheit bestimmt. Einerseits ist der Melkprozess von den physiologischen Eigenheiten der Kühe abhängig, andererseits eng mit physikalischen Gesetzen der Melktechnik verbunden. Dies betrifft speziell die Milchejektion und den Melkablauf, insbesondere die Bildung des Nachgemelks.
Kontrovers wird gegenwärtig über die Höhe des vertretbaren, im Euter verbleibenden Nachgemelks, die Notwendigkeit seiner Gewinnung und die Höhe der Abschaltpunkte diskutiert.
Die in den Sekretionszellen der Alveolen ständig gebildete Milch wird dort solange gespeichert, bis der innere Druck den Abfluss in die kleinen Milchgänge ermöglicht. Aus diesem Bereich kann die Milch nicht frei abfließen, sie ist kapillar gebunden (Alveolarmilch). Im weiteren Verlauf der Sekretion in der Zwischenmelkzeit wird die Milch in die nicht kapillaren, mittleren und großen Milchgänge und in die Euter- und Zitzenzisterne gedrückt. Nur diese als Zisternenmilch bezeichnete Fraktion ist bei Überwindung des Zitzenkanals frei abfließbar.
Stimulation
Zur aktiven Milchabgabe muss die Kuh stimuliert werden. Das wird auf manuellem oder technischem Weg an den Zitzen erreicht und löst auf neurohormonaler Ebene die Oxytocinabgabe aus. Diese führt bei Überschreitung eines Schwellenwertes der Konzentration im Blut zur Kontraktion der Myoepithelzellen um die Alveolen (neurohormonaler Reflexbogen). Die Milch wird hierdurch aktiv in die größeren Milchgänge und Zisternen des Euters gedrückt – sie „schießt ein“. Diese Milch ist jetzt ebenfalls „frei abfließbar“ und erfüllt damit die Voraussetzung für den eigentlichen Melkprozess.
Erfolgt keine vollkommene Stimulation vor dem Melkprozess, so wird die in der Zwischenmelkzeit angesammelte freie Zisternenmilch schneller ermolken als die Alveolarmilch einschießt (Latenzzeit ca. 1 min). Es kommt, besonders in der Spätlaktation, bei geringen Zisternenmilchmengen zur zeitweisen Milchflussunterbrechung (Bimodalität), die in der Folge den weiteren Melkprozess behindert. Ursache ist die zusammenfallende Gewebepartie an der Zitzenbasis und die damit einhergehende kurzzeitige Verengung der Euter-Zitzen-Passage. Dadurch kommt es zum verstärkten Einsaugen der Zitze in den Zitzengummi, wodurch bereits kurz nach Melkbeginn der optimale Milchfluss dauerhaft gestört wird.
Des Weiteren führt eine ungenügende Stimulation dazu, dass die Oxytocinkonzentration im Blut den Schwellenwert für eine vollständige Ejektion nicht überschreitet. Es kommt zu einer Teilejektion: nur ein Teil der gespeicherten Milch wird in die Zisternen abgegeben. Damit verbleibt ein größerer Anteil der Milch im Alveolarbereich, der erst durch eine erneute intensive Stimulation als Nachejektion abfließen kann. Nur mithilfe einer exogenen Oxytocininjektion kann die dann noch im Alveolarbereich befindliche und normal nicht mehr ermelkbare Milch freigesetzt werden (Residualmilch). Im Alveolarteil verbleibt aber naturgemäß in jedem Fall eine nicht abmelkbare, kapillar fest gebundene Milchmenge.
Hauptmilchfluss
Während des Melkens ermöglichen die herrschenden Druckverhältnisse in Euterzisterne, Zitzenzisterne, im Eutergewebe und im Melkbecherinnenraum sowie bei der Pulsation das Nachfließen der Milch in die Zitzenzisterne, und von dort in den Melkbecher.
Gegen Melkende sinkt der Überdruck in der Euterzisterne. Es fließt weniger Milch in die Zitzenzisterne nach als über den Zitzenkanal abfließt. Damit ändern sich die Druckverhältnisse zwischen beiden Zisternen. Die Passage zwischen Euter- und Zitzenzisterne verengt sich weitgehend und wenige Pulstakte später fallen die Zitzenwände zusammen. Der Melkbecher gleitet nach oben und verstärkt den Verschluss (BOTHUR, 1974). Die in die Euterzisterne noch nachfließende Milch kann nicht mehr abgemolken werden, wenn nicht manuell oder technisch dieser Verschluss der Euter-Zitzen-Passage über Zugkräfte überwunden wird.
Nachgemelk
Die dann abgemolkene Milch ist das klassische Nachgemelk. Die Höhe schwankt zwischen einzelnen Kühen beträchtlich und wird im Mittel mit 300 – 400 g angegeben (Mittelwert = 370 g, > 0 … > 1.900 g, GRAFF, 2006).
Für die Bildung des Nachgemelks gibt es zwei sich grundsätzlich unterscheidende Ursachen:
– das physikalisch bedingte Nachgemelk
– das physiologisch bedingte Nachgemelk
Ertragsbeeinflussend ist primär das physiologisch bedingte Nachgemelk, da der sich in der Zwischenmelkzeit aufbauende alveolare Innendruck bei vorangegangener unvollständiger Ejektion (Teilejektion) früh zum Sinken der Milchbildungsintensität (physikalisch und hormonell verursacht) führt.
Das physikalisch bedingte Nachgemelk kann in erster Linie zu Eutergesundheitsstörungen führen, die in der Folge Ertragsminderungen oder sogar Tierverluste nach sich ziehen.
Ältere intensiv geführte Kurz- und Langzeitversuche, teils über mehrere Laktationen, zeigten beim völligen Unterlassen des Nachmelkens Ertragsverluste zwischen 8 und 10 %. Als Beispiel sollen die Ergebnisse eines intensiven Halbeuterversuchs dienen, bei dem in 4 Laktationen die Ertragsentwicklung beim Unterlassen des Ausmelkens an denselben Kühen geprüft wurde (EBENDORFF, 1986). Die Verluste stiegen mit zunehmender Laktationszahl an.
Bereits nach kurzzeitigem suboptimalen Ausmelken sind Ertragseinbußen nachweisbar manifest, die nach Beheben des Mangels bis zum Laktationsende nicht mehr kompensiert werden können (EBENDORFF, 1984). Neuere intensive Untersuchungen über ähnliche Zeiträume zu dieser Problematik sind nicht bekannt und lassen sich wahrscheinlich auch durch den immensen zeitlichen und finanziellen Versuchsaufwand nur schwer wiederholen.
Schwellenwert und Abschaltpunkt
Aus umfangreichen „Lactocorder“ – Untersuchungen ist ersichtlich, dass Kühe sehr häufig ungünstige Viertelverteilungen der Milchmenge und oft große Unterschiede des Milchflusses aufweisen, besonders bei vorgeschädigten Vierteln. Konventionelle Melkanlagen signalisieren das Melkende jedoch nur nach dem Gesamtmilchfluss, der sich immer nach dem Milchfluss des „langsamsten“ Viertels richtet. Die übrigen „schnelleren“ Viertel werden inzwischen blind gemolken und unterliegen unnötigen Gewebebelastungen. In dieser Blindmelkphase läuft in den blind gemolkenen Vierteln noch Milch in der Euterzisterne zusammen, die ohne Ausmelken im Euter verbleiben würde. Das Problem verstärkt sich bei älteren Kühen durch altersbedingte anatomische Änderungen der Eutergeometrie.
Viertelindividuelle Milchflusskontrolle und Melkbecherabnahme, wie sie bereits in automatischen Melksystemen realisiert wird, senkt die Gewebebelastung, verbessert die Abschaltgenauigkeit und das Melkverhalten, vorausgesetzt, die Vorstimulation erfolgt optimal. In Verbindung mit Mehrfachmelken (> 2 mal / Tag) ist der Verbleib höherer Nachgemelke in den kürzeren Zwischenmelkzeiten weniger problematisch. Verbunden mit modernen integrierten Milchanalyseelementen (elektrische Leitfähigkeit, Photometrie, Temperatur u. a.) kann zeitnah auf Milchveränderungen zielgerichtet reagiert werden, um sich entwickelnde Laktationsstörungen zu erkennen, zu behandeln und Schäden abzuwenden.
Die Schaltpunkte zur Anzeige des Melkendes lagen ursprünglich generell bei 200 g/min, unabhängig vom Melkverfahren und den individuellen Bedingungen der Kühe. In den letzten Jahren konnte durch genauer arbeitende Messgeräte und züchterische Verbesserung der Euter dieser Wert mit Augenmaß erhöht werden, ohne dass negative Auswirkungen feststellbar waren. Weitere Erhöhungen in Bereiche teils weit über 250 g/min, das gilt auch für die zunehmend eingesetzte Einzelabschaltung der Euterviertel, fokussieren vorrangig auf den Durchsatz der Melkanlagen. Es handelt sich um rein empirische Festlegungen ohne die laktationsphysiologischen Folgen zu beachten und ist nur unter dieser einseitigen Betrachtung verständlich. Zu bedenken ist, dass die Zusammenstellung von Problemkühen in „Schwermelkergruppen“ oder das Merzen einzelner Langsam-melker einen höheren Effekt auf die Durchsatzleistung der Melkstände hat als das generelle Anheben des Schaltpunkts. Das physiologische Ertragspotenzial wird bei erhöhten Schaltpunkten nur ungenügend ausgenutzt, da die dann im Euter verbleibende Milch zu Ertragseinbußen führt.
Dreimaliges Melken verringert die negativen Wirkungen höherer Abschaltwerte nur geringfügig. Allerdings sind sie im Praxisbetrieb mit herkömmlichen Mitteln nicht nachweisbar und werden von den teils sehr hohen Milchleistungen moderner Kühe kaschiert.
Wissenschaftliche Untersuchungen über einen längeren Zeitraum zur Auswirkung höherer Abschaltpunkte auf Milchleistung und Durchsatz sollten vorgenommen, komplex analysiert und betriebswirtschaftlich beurteilt werden. Bis dahin lassen sich generelle, fabrikat- oder melkanlagenabhängige Werte individuell nur als Kompromiss vorschlagen und unterliegen der unternehmerischen Entscheidung des einzelnen Herdenmanagers.
Literatur
BOTHUR, D.: Untersuchungen zu Problemen der Vorgänge im Euter von Kühen in der Endphase des maschinellen Melkprozesses … , Diss., KMU Leipzig, 1975
EBENDORFF, W, u.a.: Untersuchungen zum zeitweiligen Unterlassen des Nachmelkens … , Arch. f. Tierzucht, Berlin, 1984
EBENDORFF, W., u.a.: Untersuchungen zum Einfluss eines ständigen Unterlassens des Nachmelkens … , Arch. f. Tierzucht, Berlin, 1986
GRAFF, K., u.a.: Haben unsere Kühe noch ein Nachgemelk? Milchpraxis, 2006
TRÖGER, F.: Wirksame Stimulation zur Auslösung des Stimulationsreflexes … , Mh. f. Vet.-Med, Jena, 1981